Wie lässt sich die Lebensmittelverschwendung reduzieren?

Bundesweit landen jährlich 8 Millionen Tonnen noch verzehrsfähige Lebensmittel im Abfall, in Bayern liegt das Vermeidungspotenzial an Lebensmittelverlusten bei 1,3 Millionen Tonnen. Dabei beträgt die Lebensmittelverlustrate in privaten Haushalten rund 6 Prozent, im Handel 3,3 Prozent und in verarbeitenden Betrieben 1,5 Prozent. Günes Seyfarth von der Organisation Foodsharing München e. V. und Dr. Danielle Borowski vom Handelsverband Bayern (HBE) erzählen, wie sich Lebensmittelverlustraten aus ihrer Sicht reduzieren lassen.

Dr. Danielle Borowski vom Handelsverband Bayern

Dr. Danielle Borowski, Bild: Danielle Borowski

Dr. Danielle Borowski
leitet die Abteilung Wirtschaft und Verbraucherpolitik beim Handelsverband Bayern (HBE). Der HBE ist die Interessenorganisation des gesamten Einzelhandels in Bayern und einer der größten bayerischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände. Ihm gehören knapp 7.000 Mitgliedsunternehmen mit über 22.000 Betrieben aller Größen, Vertriebsformen und Branchen an.
Günes Seyfarth vom Verein Foodsharing e.V.

Günes Seyfarth, Bild: Hauke Seyfarth

Günes Seyfarth
ist Onlinerin, Kita-Gründerin und Co-Gründerin von Mamikreisel und engagiert sich gegen Lebensmittelverschwendung (Vorstand foodsharing e. V.), für ein besseres Schulsystem (Eine Schule Für Alle e. V.) und will nach eigener Kita nun auch eine Schule für nachhaltiges Denken, Lernen und Handeln gründen (www.greenthinktank.de).

Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Sie sind Partner im Bündnis „Wir retten Lebensmittel!“, das vom Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ins Leben gerufen wurde. Warum und auf welche Weise engagieren Sie sich im Bündnis?

Dr. Danielle Borowski:

Der Lebensmitteleinzelhandel arbeitet seit Jahrzehnten erfolgreich daran, die Verlustrate von Lebensmitteln so gering wie möglich zu halten. Sie beträgt im Durchschnitt aller Warengruppen gerade einmal ein Prozent des Nettowarenwerts. Wir haben es daher sehr begrüßt, dass das Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten durch Initiierung des Bündnisses dem Thema Lebensmittelverschwendung einen Stellenwert und eine Wichtigkeit eingeräumt hat, die es verdient und dringend benötigt.

Wir engagieren uns daher auf verschiedenen Ebenen und schätzen den Austausch mit allen Akteuren der Wertschöpfungskette sehr. So wird das Bündnis von uns seit dem ersten Tag bei unseren Mitgliedern beworben und in unsere Öffentlichkeitsarbeit einbezogen. Wir begleiten zusammen mit Mitgliedsunternehmen unserer Fachgemeinschaft Lebensmittel die einzelnen Fokusgruppen und bringen dort fortlaufend unser Know-how ein. Zu den Themen Mindesthaltbarkeitsdatum, Erfassung der Lebensmittelverluste und Verbraucherbildung als Schulfach erarbeiten wir gerade Positionspapiere.

Günes Seyfarth:

Der Umgang mit Lebensmitteln wird gelernt. Genauso wie der Geschmack. Ob Lebensmittel weggeschmissen oder weiterverarbeitet werden liegt daran, wie wir es u. a. in unserer Kindheit lernen. Mit unserer Aufklärungsarbeit wollen wir früh ansetzen und auch Kinder an folgende Themen heranführen: Die Wahrheit hinter dem Mindesthaltbarkeitsdatum, der Unterschied zum Verbrauchsdatum, die Lagerung und Weiterverarbeitung von Lebensmitteln sowie die globalen Konsequenzen durch das Aussetzen von Saisonalität und Regionalität bei Lebensmittelprozessen, was zusammenhängt mit der ständigen Verfügbarkeit von Lebensmitteln für den Verbraucher. Es geht nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um Reflexion des modernen Verbraucherverhaltens, wie z. B. der Tatsache, dass um 5 Minuten vor Ladenschluss noch das gesamte Lebensmittelsortiment erwartet wird. Es ist spannend, diese Themen für die Kinder greifbar zu machen.

Prozentual treten die meisten Lebensmittelverluste in Privathaushalten auf. Stimmen diese Zahlen mit Ihrer Wahrnehmung überein?

Dr. Danielle Borowski:

Leider ja. Deshalb ist es unser gemeinsames Ziel, neue Wege für einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln auszuloten. Wichtig sind besonders Maßnahmen, die zu mehr Wertschätzung der Lebensmittel durch den Einzelnen führen. Hierfür gibt es unterschiedliche Ansätze, so zum Beispiel die Forderung nach einem Schulfach „Verbraucherbildung“. Junge Menschen müssen bereits in der Schule den richtigen Umgang mit Lebensmitteln und Konsum lernen. Auch ist vielen Verbrauchern zwar die Bedeutung des Mindesthaltbarkeitsdatums bekannt, sie halten sich in der konkreten Entscheidungssituation jedoch zu selten daran. Hier helfen nur Information und Aufklärung, um das Problem in den Griff zu bekommen.

Günes Seyfarth:

Wir retten jeden Tag unvorstellbar große Mengen in Supermärkten, Bäckereien und Märkten sowie Events. Sicherlich werfen auch Verbraucher zum Teil große Mengen weg. Doch die Mengen im Handel sind tatsächlich auch sehr groß. Wir versuchen mit unserer Vereinsarbeit an beiden Seiten anzusetzen: Zum einen Verbrauchern Wissen über die Haltbarkeit von Lebensmitteln zu geben. Zum anderen mit unseren Kooperationspartnern daran zu arbeiten, dass durch eine reflektierte und bewußte Einkaufspolitik weniger Lebensmittel weggeworfen werden.

Welche Maßnahmen, um die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, halten Sie für die sinnvollsten und effektivsten?

Dr. Danielle Borowski:

Grundsätzlich sollten wir alle Akteure der Wertschöpfungskette, vom Feld bis zum Teller, für mehr Wertschätzung im Umgang mit Lebensmitteln sensibilisieren. Dass der Lebensmitteleinzelhandel nahezu die geringsten Verluste entlang der gesamten Wertschöpfungskette aufweist, ist das Ergebnis moderner Warenwirtschaftssysteme, kurzer Transportwege, lückenloser Kühlung und regelmäßiger Schulungen unserer Mitarbeiter. Diese Maßnahmen haben sich daher bereits als sehr effektiv bewiesen.

Günes Seyfarth:

Da muss man an zwei Ebenen arbeiten:

  • Das eine ist die Aufklärung auf Verbraucherebene: Durch unsere Gespräche mit Verbrauchern freuen wir uns sehr, wenn wir die Sorge beim Verzehr von abgelaufenen Lebensmitteln mindern und Wissen an die Hand geben können, wie sie die Unbedenklichkeit von Lebensmitteln für die Gesundheit überprüfen können. Es ist uns auch ein Anliegen, dass nicht nur gekauft wird, was schön ist, damit im Handel weniger weggeworfen werden muss.
  • Das andere ist die Weichenstellung auf politischer Ebene. Es muss klar werden, dass vorhandene Lebensmittel höher priorisiert werden müssen aufgrund ihres bereits eingesetzten Ressourcenverbrauchs. Es muss gesetzliche Vorgaben geben, dass alles getan werden muss, um Lebensmittel dem Verzehr zuführen zu können. Möglichkeiten sind: Weitergabe an Menschen durch Rabattierung, Weiterverarbeitung und Abgabe an entsprechende Organisationen. Auch lokale Landwirtschaftskonzepte wie Urban Farming und Restaurants, die nicht mehr verkaufbare Lebensmittel weiterverarbeiten und weitergeben müssen finanziell gefördert werden. Natürlich muss dies immer unter Einhaltung von Lebensmittelverarbeitungs- und Hygienestandards erfolgen.
  • Auch die Wissensvermittlung und Aufklärung in der Kindheit durch entsprechende pädagogische Konzepte in Kita und Schule ist ein notwendiger Aspekt: Kinder müssen an Essen als Grundlage für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit herangeführt werden.
  • Ebenso ist die Wissensvermittlung auf Verpackungen und an Verkaufsstellen von Lebensmitteln für die Verbraucher zwingend erforderlich, wie z. B.: Was tun mit einem verschrumpelten Apfel? Sind braune Flecken auf der Zucchini unbedenklich? Und wann hat dieses Obst/Gemüse Saison (sozusagen eine Lebensmittelampel für Saisonalität und Regionalität)?

Was können die einzelnen Akteure tun, um Lebensmittelverluste zu vermeiden?

Konsumenten:

Dr. Danielle Borowski:

Wir alle müssen unsere Grundeinstellung bzw. Verhaltensweisen gegenüber Lebensmitteln überdenken. Es kann zukünftig nicht mehr darum gehen, Lebensmittel als bloßes Mittel zum Zweck zu sehen, sondern wir müssen ihnen mit der Wertschätzung begegnen, die sie verdienen. Dazu gehört z. B. eine überlegte Mahlzeiten- und Einkaufsplanung. Hierin liegt ein erheblicher Beitrag zur Verringerung der Lebensmittelvernichtung.

Günes Seyfarth:

Die Verbraucher müssen sich bilden, was die Verarbeitung, die Lagerung und die Saisonalität von Lebensmitteln anbelangt. Und sie müssen sich an regionale Produkte heranwagen (Stichwort: Kohlüberschuss im Winter).

Der Handel:

Dr. Danielle Borowski:

Der Lebensmitteleinzelhandel darf in seinem Engagement gegen Lebensmittelverluste nicht nachlassen. Die Branche ist hier bereits sehr erfolgreich. Aber durch Innovationen und neue Ideen lässt sich auch in Zukunft auf diesem Gebiet viel gestalten und optimieren.

Günes Seyfarth:

Konkret wünschen wir uns folgende Maßnahmen vom Handel:

  • Wegwerfen als No-Option in der Managementkultur einzuführen.
  • Alternative Abgabemöglichkeiten von „nichtverkäuflichen“ Lebensmitteln aufzutun.
  • Verbraucher über die Haltbarkeit und Verwendung von Lebensmitteln aufzuklären.

Die Politik:

Dr. Danielle Borowski:

Die bereits schon sehr geringen Verlustraten im Lebensmitteleinzelhandel könnten noch niedriger sein, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen dies erlauben würden. Als Stichwort möchte ich hier nur die jahrelange Diskussion um das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) nennen. Für den verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln ist das Mindesthaltbarkeitsdatum ein zuverlässiges Hilfsmittel. Wenn Verbraucher das MHD dennoch als Wegwerfdatum handhaben, könnte das daran liegen, dass sie es als „Lizenz zum Wegwerfen“ interpretieren. In diesem Fall würde eine Umbenennung das Problem ebenfalls nicht lösen, zumal alle bisher in den Raum gestellten Alternativbezeichnungen nicht gänzlich überzeugen konnten. Das MHD muss daher erhalten bleiben. Sein Name ist etabliert und gelernt. Seine richtige Handhabung trägt zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung bei, vor allem bei solchen Produkten, bei denen es zur Beurteilung der spezifischen Eigenschaften eine große Entscheidungshilfe ist.

Günes Seyfarth:

Unsere Wünsche an die Politik sind:

  • Schaffung gesetzlicher Vorgaben.
  • Förderung/Initieerung von pädagogischer Bildung für Kinder.
  • Unterstützung von lokalen Konzepten und Organisationen im Bereich der Verbraucheraufklärung.
  • Durchführung von Kampagnen, um den Verbrauchern bewußt zu machen, welche Macht sie durch Konsum ausüben können.

Ein Blick in die Zukunft: Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung im Bereich Lebensmittelverschwendung in der Gesellschaft?

Dr. Danielle Borowski:

Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Nachhaltigkeit gewinnt für den Lebensmittelhandel zusehends an Bedeutung. Denn immer mehr Verbraucher legen Wert darauf, dass Produkte umwelt- und sozialverträglich hergestellt und fair gehandelt werden. Es geht ihnen um ökologisch einwandfreie Produkte, deren Herkunft eindeutig nachvollziehbar und zuzuordnen ist. Essen ist für sie mehr als bloße Nahrungsaufnahme oder bloßes Sattwerden. In diese Entwicklung passt auch eine gesteigerte Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln.

Günes Seyfarth:

Das Konsumverhalten von Verbrauchern hat sich enorm verändert. Zugenommen haben die Bequemlichkeit (als Beispiel sei hier die Lieferung von Lebensmitteln und Speisen genannt) sowie die Erwartungshaltung bezüglich der ständigen Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Das ist natürlich auch Ausdruck der Hektik unseres Alltags, der uns kaum noch Zeit lässt, uns mit der ordentlichen Erfüllung unserer Grundbedürfnisse zu beschäftigen. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss, dass sich auch hier etwas ändern muss, damit die Menschen Kapazitäten haben, um sich mit einer Umstellung ihrer Ernährungs- und Lebensmittelbeschaffungsgewohnheiten zu beschäftigen.

Menschen, die ihr eigenes Verhalten ändern, um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden, sind immer noch eine Randergruppe. Das Verhalten zu ändern bedeutet, die eigenen Gewohnheitsmuster zu hinterfragen und sich Wissen anzueignen über richtige Lagerung und Zubereitung von Lebensmitteln.

Wir von Foodsharing München e. V. setzen uns täglich dafür ein, beim Verbraucher, dem Handel, den Produzenten und der Politik einen Bewußtseinswandel anzustoßen. Ich wünsche mir, dass wir hier noch mehr bewirken können und mehr Menschen erreichen können, damit aus unserer Community eine Massenbewegung wird.