Rückblick 1. Journalisten-Workshop
Mythen und Fakten in der Ernährung

Titelbild Flyer Workshop "Mythen und Fakten in der Ernährung"

"Mythen und Fakten in der Ernährung" lautete der Titel des ersten Journalisten-Workshops, zu dem das KErn gemeinsam mit dem Max Rubner-Institut (MRI) am 2. Oktober 2015 eingeladen hatte. Journalisten und Wissenschaftler erörterten im PresseClub München spannende Fragen: Wie lassen sich Studienergebnisse interpretieren? Ist Milch schädlich und vegane Ernährung gesund? Und was können Journalisten tun, um Lesern, Zuschauern sowie Zuhörern mehr Klarheit über das Wissensgebiet Ernährung zu verschaffen?

Christine Röger, Bereichsleitung Wissenschaft am KErn, eröffnete die Veranstaltung. Nach der Begrüßung der Workshop-Teilnehmer schilderte sie die Situation der Verbraucher: Viele seien verunsichert. Sind glutenfreie Lebensmittel besser? Kann ich mich während der Schwangerschaft vegan ernähren? Sind Chia-Samen gut fürs Haar? Die Fragen der Verbraucher seien dispers und greifen oft aktuelle Themen aus den Medien auf, so Röger. Daher lautete Ihr Appell an die Vertreter der Medien und der Wissenschaft: "Viele Verbraucherinnen und Verbraucher sind in Sachen Ernährung verunsichert und resignieren. Wissenschaftskommunikation, Wissenschaft und auch die Medien sollten im Bereich der Ernährung in einen Dialog treten. Nur dann gelingt es, die Informationsflut in der Ernährung mit zum Teil gegensätzlichen Aussagen besser zu kanalisieren und zu bewerten."

Keynotes

Was ist denn nun gesund? Medien zwischen Ernährungsforschung und Erwartungen der Leser

Susanne Schäfer, Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin, ging der Frage nach, warum das Bedürfnis nach konkreten Ernährungsempfehlungen in der Bevölkerung so stark ist und welche Ernährungsthemen von den Medien aufgegriffen werden. Die Gesundheit sei in der Gesellschaft ein großes Thema, jeder sei heute dazu aufgefordert, seinen jugendlichen Körper bis ins hohe Alter zu erhalten. Gesundheitsvorsorge sei zur Bürgerpflicht und die Ernährung zum Schlüssel für Gesundheit geworden. Ein Dilemma entsteht nach Ansicht der Referentin daraus, dass viele Menschen konkret wissen wollen, welche Lebensmittel ihre Gesundheit auf welche Weise fördern, die Ernährungswissenschaft aber solche detaillierten Handlungsanweisungen oft nicht geben kann. Ernährungsgurus und manche Medien bedienen die Nachfrage trotzdem und stilisieren bestimmte Nahrungsmittel entweder zu Heilsbringern oder zur Bedrohung. Auf den ersten Blick sei damit beiden Seiten geholfen: Die Leser bekommen konkrete Empfehlungen, die Medien hohe Aufmerksamkeit. In Wirklichkeit aber trage dieser Mechanismus dazu bei, dass viele falsche Informationen über Ernährung kursieren und dass Menschen übertriebene Hoffnungen mit Nahrungsmitteln verbinden – oder umgekehrt große Ängste.

Studien lesen: Was steht da wirklich? Ein Überblick über Methoden und Studiendesigns zum Thema Ernährung

Prof. Dr. med. Johannes Erdmann von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf erklärte, was sich hinter verschiedenen epidemiologischen Studientypen verbirgt. Prävalenzen¹ von Risikofaktoren und Erkrankungen werden beispielsweise mit Hilfe von Querschnittsstudien untersucht. Bei diesem Studiendesign sei es jedoch nicht möglich, Ursache-Wirkungsbeziehungen aufzuzeigen, da Exposition und Erkrankung zu einem Zeitpunkt erfasst werden. Eine Fall-Kontroll-Studie sei eine retrospektive Beobachtungsstudie, erläuterte Erdmann, Fälle (Personen mit Zielerkrankung) und Kontrollen (Personen ohne Zielerkrankung) werden auf das Vorhandensein von Expositionsfaktoren verglichen und z. B. in die Vergangenheit befragt, was sie gegessen haben. Mit Hilfe dieses Studientyps können Odds² berechnet werden. Kohortenstudien untersuchen Kollektive in einem definierten Zeitraum, um Unterschiede im Auftreten der Zielerkrankung festzustellen. Sie ermöglichen eine Bestimmung der Inzidenz³. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) seien der Goldstandard der klinischen Forschung. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass eine definierte Population nach dem Zufall in zwei Gruppen, Intervention und Kontrolle, aufgeteilt werde. Es sei das beste Studiendesign, um Kausalität zu belegen. Werde eine Ursache-Wirkungs-Beziehung lediglich vermutet, so Erdmann, sollten die Bradford-Hill-Kriterien zur Prüfung herangezogen werden.

¹Anteil der Erkrankten in einer definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt
²Wahrscheinlichkeitsverhältnis, mit dem ein Ereignis eintritt
³Neuerkrankungsrate: Anzahl an neu aufgetretenen Krankheitsfällen in einer definierten Population in einem bestimmten Zeitraum

Darstellung der Ernährung in den Medien: Fakten, Features und Fiktionen - Praktische Übungen (Artikel analysieren, Abstracts lesen)

Prof. Dr. Holger Wormer, Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsjournalismus an der Technischen Universität Dortmund, referierte über Qualität im Wissenschaftsjournalismus. Zu Beginn seines Vortrages machte Wormer deutlich, warum Neuigkeiten aus dem Sektor Ernährung in den Medien auf großes Interesse stoßen: Sie entsprechen den Auswahlkriterien (etwa Nachrichtenfaktoren wie "Nähe", "Kuriosität", "Reichweite" etc.) der Redaktionen. Er betonte jedoch auch, dass Übertreibungen schon viel früher anfangen und sprach von den „kumulativen Kräften eines Hypes“. Der hohe Publikationsdruck in der Wissenschaft stelle einen Teil des Problems dar und bringe eine ganze Kaskade ins Rollen. Es folgen übertriebene Pressemitteilungen, die wiederum zu aufgebauschten Artikeln führen. Wormer betonte, dass die Qualität von journalistischen Beiträgen messbar sei und stellte das Projekt Medien-Doktor vor. Auf medien-doktor.de beurteilen Journalisten Beiträge aus Print-, Online-, Fernseh- und Hörfunkmedien nach festgelegten Kriterien – z. B. werden Nutzen, Risiken und Belege im Beitrag genannt? Die Workshop-Teilnehmer begutachteten in praktischen Übungen ausgewählte journalistische Beiträge und Wormer empfahl, auch künftig mit diesen oder ähnlichen Kriterien in Form einer Checkliste zu arbeiten.

Vegane Ernährung – der Schritt in eine bessere Welt oder Mangelernährung?

Mythen: Milieu macht Meinung PR-Strategie und Erfolge der Vegetarier

„Beim Trend Vegetarismus und Veganismus gibt es eine gefühlte Wahrheit“, so Johanna Bayer, Wissenschaftsjournalistin und TV-Autorin. „Immer mehr Menschen sind Vegetarier oder verzichten gleich ganz auf Tierprodukte“. Nach Schätzungen und Umfragen des Vegetarierbund Deutschland e. V. (VEBU) leben schon 10 % der Deutschen vegetarisch. Verschiedene aktuelle wissenschaftliche Studien, darunter eine der Universitäten Göttingen und Hohenheim 2013, ermittelten jedoch nur zwischen 1,6 und 3,7 Prozent Vegetarier in Deutschland. Darin enthalten sind alle Veganer sowie Vegetarier, die auch Fisch essen, die also eigentlich keine echten Vegetarier sind.
Die weitaus höheren Schätzungen des VEBU erscheinen in den Medien jedoch meist gleichberechtigt neben wissenschaftlichen Studien, betonte Bayer, und zitierte eine Redakteurin, nach deren Einschätzung der VEBU von Journalisten als unabhängiger Fachverband wahrgenommen werde, dessen Informationen unkritisch übernommen würden. Für ihre Argumentation nutzen Veganer/Vegetarier in Debatten teils selektiv zitierte Studien und Ergebnisse, etwa die EPIC- und die Adventisten-Studien, teils auch ganz andere Quellen wie den Bestseller „China Study“, ein populäres Sachbuch. Geltende wissenschaftliche Erkenntnisse etwa über Fleisch und Milch als hochwertige Lebensmittel werden von Vegetariern und Veganern zunehmend bestritten. Dagegen ordnen sie tierische Lebensmittel als ernährungsphysiologisch wenig wertvoll ein. Viele Medien greifen das Thema auf und bedienen den Trend. So gelte häufig in Lifestyle- und Genuss-Sendungen die einfache Gleichung „vegetarisch = gesund“. Gegenüber dem PR-Erfolg des VEBU stünden Landwirtschaft und Fleischindustrie eher als Verlierer da. Ihre Botschaften werden im Gegensatz zu denen des VEBU als interessegeleitet wahrgenommen.

Fakten: Vegane Ernährung

In seinem zweiten Vortrag präsentierte Prof. Dr. Johannes Erdmann die Fakten zum Thema vegane Ernährung. Der Ernährungsmediziner untermauerte seine Argumentation anhand von einschlägigen wissenschaftlichen Untersuchungen (z. B. Nurses’ Health Study, EPIC-Studie¹, Adventist Health Study) und legte auch die methodischen Schwächen sowie Limitationen der Untersuchungen dar. So scheine der Konsum stark verarbeiteter Wurstwaren mit einem geringfügig erhöhten Krankheits- und Sterberisiko verknüpft zu sein. Für eine per se schadhafte Wirkung von Fleisch gebe es jedoch keine Evidenz. Die bei manchen Studien erhöhte Morbidität und Mortalität bei Fleischkonsum könnte mit ungünstigen Faktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum sowie Adipositas zusammenhängen. Erdmann wies auch auf die Risiken bei veganer Kost hin. So zeigen Daten, dass vegane Kost mit Risiken wie Mangel an Vitamin B12 und Eisen, einer schlechten Zusammensetzung der Proteinzufuhr sowie einer unzureichender Proteinmenge korreliere.

¹European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition Study study

Milch – "Drei Gläser am Tag tödlich" oder "Freispruch für ein Kulturgut"?

Mythen: Was titeln die Medien? Schlagzeilen und Studien

Der Entstehung, Verbreitung und Konsequenzen von Milchmythen ging Simone Hörrlein vom Bereich Wissenschaft des KErn auf den Grund. So werde die Milch in letzter Zeit mit einer Reihe von Erkrankungen in Verbindung gebracht. Die Vorwürfe gegen die Milch lauten beispielsweise „Milch erhöhe das Krebsrisiko“. Laut Hörrlein seien die Ankläger oft im Internet zu finden: Heilpraktiker, Vegan-Köche, Tierschützer und Anbieter von Konkurrenzprodukten. Diese Gruppen verdienen oft ihr Geld im Internet über Werbung und Klickraten, was bedeute: Je emotionaler und reißerischer die Schlagzeile, desto mehr Aufmerksamkeit, Klicks und schließlich Geld generiere der Beitrag. „Es ist ein schmaler Grat zwischen Fehlinformation und Desinformation“, so Hörrlein, und betonte „Wissenschaft braucht den unabhängigen Wissenschaftsjournalismus!“

Fakten: Milch- und Milchprodukte

„Milch ist weiterhin ein wertvolles Lebensmittel“, fasste Prof. Dr. Bernhard Watzl, Direktor und Professor am Max Rubner-Institut (MRI) sowie Leiter des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung, in seinem Vortrag zusammen und stellte Ergebnisse aus dem Literaturüberblick zum Thema Milchverzehr und potenzielle Krankheitsrisiken vor. Den Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Literatur hat das MRI im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum für Ernährung (KErn) erstellt. Nach einer objektiven Bewertung der Datenlage haben Milch und Milchprodukte keinen negativen Effekt auf das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Bluthochdruck, Diabetes und Krebs. Beim Prostatakrebs gebe es einen Hinweis auf eine mögliche Risikoerhöhung bei hohem Verzehr von Milch (über 1 l/Tag) und Milchprodukten (über 1 kg/Tag). Entspreche der Verzehr den DGE-Empfehlungen, so korreliere dieser mit einem verringerten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Bluthochdruck, Diabetes und Dickdarmkrebs. Das Fazit lautete: „Milch und Milchprodukte sind weiterhin wichtige Komponenten in einer ausgewogenen Ernährung!“

Zum Bericht "Ernährungsphysiologische Bewertung von Milch und Milchprodukten und ihren Inhaltsstoffen" Externer Link

Podiumsdiskussion

Eier, Fett, Zucker – Ernährungsempfehlungen in Deutschland – Wie belastbar ist die Ernährungswissenschaft?

Was sind die Unterschiede zwischen Ernährungs- und medizinischer Forschung? Welche Hinweise oder gar Wünsche haben Journalisten an Ernährungswissenschaftler? Wie kann die Qualität der Ernährungsbeiträge in den Medien verbessert werden? Diese und weitere Fragen diskutierten Prof. Dr. Gerhard Rechkemmer, Präsident Max Rubner-Institut, Prof. Dr. Gerd Antes, Direktor Cochrane Deutschland, und Judith Schaller, Autorin und Reporterin vom Westdeutschen Rundfunk, gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmern. Rechkemmer wies darauf hin, dass in der Ernährungsforschung eine komplexere Situation vorherrsche als in der Pharmakologie, wo hochwirksame Einzelsubstanzen auf Effekte hin untersucht werden. Lebensmittel seien komplex, sie bestehen aus vielen einzelnen Komponenten. Es sei eine große Herausforderung, eine komplexe Studie im Fernsehen in ein paar Sätzen zu erklären, bemerkte Schaller. „Eine Studie kann noch so gut sein, sie muss auch erzählbar sein. Der Zuschauer oder Leser muss sagen – das ist spannend!“

Impressionen zum Workshop