Kontrovers diskutiert
Vereinfachte Nährwertkennzeichnung – was ist sinnvoll?

Für Deutschland soll ein vereinfachtes, erweitertes Nährwertkennzeichnungs-Modell entwickelt werden. Jutta Saumweber von der Verbraucherzentrale Bayern und Peter Loosen vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. (BLL) beantworten unsere Fragen zu diesem Thema.

Portraitfoto Jutta Saumweber

©Jutta Saumweber

Steckbrief Jutta Saumweber
Jutta Saumweber studierte an der Universität in München-Weihenstephan Ökotrophologie und leitet seit 2015 das Referat Lebensmittel und Ernährung der Verbraucherzentrale Bayern.

Die Verbraucherzentrale Bayern informiert, berät und unterstützt Verbraucherinnen und Verbraucher in Fragen des privaten Konsums.
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©BLL/Matthias Martin

Steckbrief Peter Loosen
Als Geschäftsführer beim BLL vertritt Herr Loosen die Interessen der deutschen Lebensmittelwirtschaft auf nationaler und europäischer Ebene. Peter Loosen ist als Rechtsanwalt (LL.M.) beim Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft mit den lebensmittelrechtlichen Gesetzgebungsvorhaben vertraut und lehrt diese an der Universität Bonn.

Welche Chancen sehen Sie in einem vereinfachten, erweiterten Nährwertkennzeichnungssystem?

Jutta Saumweber
Ein einheitliches standardisiertes System, dass sich an die Breite der Bevölkerung wendet, hilft Verbrauchern dabei, gesündere Kaufentscheidungen zu treffen. Eine insgesamt bessere Ernährung wäre die Folge. Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf- Erkrankungen wird vorgebeugt.

Im besten Falle gibt im zweiten Schritt ein vereinfachtes, farbliches Nährwertkennzeichnungssystem der Lebensmittelwirtschaft den Anstoß, ihre Produkte dauerhaft ernährungsphysiologisch zu „verbessern“, weil Verbraucher durch die Wahlmöglichkeit gesünderen Produkte den Vorzug geben und eine gute Bewertung im System ein Verkaufsargument für die Wirtschaft ist.
Peter Loosen
Eine erweiterte Nährwertkennzeichnung kann sinnvoll sein, wenn sie den Kunden einen Mehrwert gegenüber der bereits verpflichtenden Nährwerttabelle liefert, d.h., wenn sie auf einen Blick die Bedeutung und den Beitrag des Lebensmittels zur täglichen Ernährung zutreffend darstellt.

Welche Risiken bestehen durch ein vereinfachtes, erweitertes Nährwertkennzeichnungssystem?

Jutta Saumweber
Ein vereinfachtes Nährwertsystem kann nicht alle wertgebenden Inhaltsstoffe, zum Beispiel Vitamine, Mineralstoffe oder ungesättigte Fettsäuren berücksichtigen. Das perfekte System bei einem so komplexen Thema wie dem Nährwertprofil eines Lebensmittels gibt es sicher nicht. Alle Systeme haben Vor- und Nachteile. Eine einfache, präsente und unkomplizierte Darstellung als Hilfsmittel ist aber genau das Ziel. Ohne Vereinfachung kann eine Bewertung auf einen Blick nicht funktionieren. Verbraucher, die mehr über das gekaufte Lebensmittel wissen müssen, weil sie beispielsweise bestimmte Inhalts -oder Nährstoffe meiden sollen, werden auch zukünftig darauf angewiesen sein, die Zutatenliste und die Nährwerttabellen zu lesen.

Freiwillige Lösungen geben der Ernährungswirtschaft die Möglichkeit, sich einer Kennzeichnung zu entziehen oder nur gut bewertete Produkte zu kennzeichnen. Eine europaweit verpflichtende Kennzeichnung mit der Entscheidung für ein einheitliches Kennzeichnungsmodell wäre für Verbraucher die beste Lösung. Eine Vielzahl verschiedener Systeme innerhalb der EU halten wir eher für verwirrend.
Peter Loosen
Systeme, die Lebensmittel bewerten, in dem sie z. B. mit Ampelfarben arbeiten, deren Bedeutung aus dem Straßenverkehr gelernt ist, können leicht zu Fehleinschätzungen durch die Kunden führen. Etwa wenn grün damit verbunden wird, dass man davon viel essen könne, weil das Lebensmittel per se gesund ist. Eine wie auch immer geartete „ideale Nährstoffzusammensetzung“ eines einzelnen Lebensmittels ist aber aus ernährungswissenschaftlicher Sicht weder erforderlich noch sinnvoll, da im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung Lebensmittel mit unterschiedlicher Zusammensetzung kombiniert werden können und müssen.

Für Verbraucher "auf einen Blick" verständlich. Geht das überhaupt?

Jutta Saumweber
Ja, das französische Nutri Score-Modell ist ein überzeugendes, wirkungsvolles Beispiel. Verbraucher können mit Hilfe einer Skala von Farben und Buchstaben beim Einkauf eine bewusste Entscheidung für das ausgewogenste Lebensmittel treffen.
Die Vorteile des Nutri Score Modells lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Es wurde wissenschaftlich in einem Konsultationsprozess (Staat, Wissenschaft, Verbraucherverbände) erarbeitet.

2. In den Score gehen günstige und ungünstige Nährwertelemente mit ein und werden miteinander verrechnet.

3. Unterschiedliche Produktgruppen lassen sich gut gegenüberstellen, da sich der Nutri-Score auf 100 Gramm bzw. 100 Milliliter bezieht1.

4. Der Nutri Score enthält keine - auf den ersten Blick - unverständlichen Zahlen, sondern eine leicht verständliche Farbscala (grün positiv, von gelb nach dunkelrot immer negativer) und Buchstabenreihen.

5. Erste valide Untersuchungen haben gezeigt, dass die Menschen im Supermarkt eher zu Nahrungsmitteln mit grüner Kennzeichnung greifen und den Zweck der Kennzeichnung verstehen2.
Peter Loosen
Unsere Mitglieder haben sich für ein Modell entschieden, das genau diesen Anspruch hat. Es arbeitet visuell, ohne dabei eine Empfehlung abzugeben. Es kann den Kunden die Wahl erleichtern und es erfüllt die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen. Es ist eine vereinfachte Darstellung des Verhältnisses der enthaltenen Nährstoffe zu den anerkannten täglichen Referenzmengen. Die Referenzmengen sind die Mengen an Kalorien sowie ausgewählten Nährstoffen, die ein Erwachsener im Durchschnitt täglich zu sich nehmen sollte. Die Bezugsgröße ist 100 Gramm oder Milliliter.

Ist eine Lebensmittel – Ampelkennzeichnung sinnvoll?

Jutta Saumweber
Eine farbliche Kennzeichnung hält die Verbraucherzentrale für das Verbraucherverständnis für notwendig. Dabei sollten Verbraucherinnen und Verbrauchern bei verarbeiteten Produkten – auf den ersten Blick und damit auf der Produktvorderseite – erkennen können, ob ein Lebensmittel ausgewogen ist, um es innerhalb von Produktgruppen besser vergleichen zu können.

Farben von grün nach rot und Abstufungen mit Buchstaben, wie beim Nutri Score erleichtern die gesündere Wahl3.

Auch der Druck auf die Ernährungswirtschaft, ihre Rezepturen ernährungsphysiologisch zu verbessern, wird mit einer farblichen Kennzeichnung erhöht.
Peter Loosen
Eine Einteilung von Lebensmitteln oder deren Inhaltsstoffe in „gesund“ und „ungesund“ ist zu kurz gegriffen und wissenschaftlich nicht haltbar. Nichts Anderes aber macht die Lebensmittelampel, die einzelne Nährstoffe mit rot, gelb oder grün bewertet. So kann es durchaus auch dazu führen, dass Lebensmittel alle drei Farben für die verschiedenen Nährstoffe erhalten. Das ist für Kunden wenig hilfreich und eher verwirrend. Außerdem kann eine Bewertung durch Ampelfarben – wie unter 2. beschrieben – zu Fehlinterpretationen führen. Wenn das Max-Rubner-Institut klar und deutlich feststellt, dass Nährwertkennzeichnungsmodelle keine Orientierung für eine ausgewogene Ernährung bieten, sondern lediglich den Vergleich von Produkten derselben Produktgruppe und somit die Wahl des ernährungsphysiologisch günstigeren Produkts erleichtern können, dann sollte man tunlichst den Eindruck vermeiden, dass ein System mehr kann.

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