Kontrovers diskutiert
Gesünder und nachhaltiger mit Nudging – möglich und sinnvoll oder nicht?

Übergewicht, sitzender Lebensstil, Klimaschutz: Das Handeln – oder Nicht-Handeln – der Verbraucher rückt zunehmend in den Blickpunkt der Politik. Das Ziel von „Nudging“ (von engl. to nudge = anstupsen) ist es, das Verhalten von Menschen auf vorhersagbare Weise zu lenken, ohne dabei auf Verbote und Einschränkungen zu setzen oder ökonomische Anreize verändern zu müssen. Können innovative Nudging-Maßnahmen – der Stups in die gewünschte Richtung – Entscheidungen zur „gesünderen Wahl“ oder zu einem „nachhaltigeren Lebensstil“ tatsächlich langfristig fördern?
Zu diesem Thema haben Dr. Max Vetter vom Institut für Verpraucherpolitik ConPolicy und Stephan Becker-Sonnenschein vom Global Food Summit uns diverse Fragen beantwortet.

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Max Vetter, Projektmanager für Verbraucherforschung bei ConPolicy

Dr. Max Vetter
ist Projektmanager für Verbraucherforschung bei ConPolicy und zuständig für Projekte in den Bereichen Verbraucherverhalten, Verbraucherpolitik und Nachhaltigkeit. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Anstoßens ("Nudging") nachhaltigen Verhaltens durch Entscheidungsarchitekturen und dem Einfluss der eigenen Umwelteinstellung.
Becker-sonnenschein

Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer der Kommunikationsagentur BESO & Partner

Stephan Becker-Sonnenschein
hat Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert, ist Gründer und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur BESO & Partner, war zuvor über mehrere Jahre Geschäftsführer des Vereins Die Lebensmittelwirtschaft und veranstaltet im März 2019 den Global Food Summit in München.

Fragen zu Chancen und Risiken von Nudging

Beim Thema Nudging geht es ja darum, Menschen sanft in die richtige Richtung zu lenken. Dahinter steht aber die Grundfrage: Wie lassen sich Menschen überhaupt beeinflussen bzw. wie treffen wir Entscheidungen?
Max Vetter:
Wir sind täglich mit einer Vielzahl kleinerer und größerer Entscheidungen konfrontiert und navigieren sehr gut durch diesen „Entscheidungs-Jungle“. Manche Entscheidungen treffen wir intuitiv, manche durch intensives Nachdenken und beide Strategien können sehr gut sein. Manchmal führt die eine oder andere Strategie aber auch zu Entscheidungen, die aus individueller oder gesellschaftlicher Sicht nicht optimal sind. Das liegt daran, dass wir nicht immer alle Informationen berücksichtigen können bzw. verstehen, uns von Daumenregeln (Heuristiken) leiten lassen und unsere Fähigkeit zur Selbstkontrolle begrenzt ist. Menschen sind eben (glücklicherweise) keine Computer. Der Nobelpreisträger Herbert Simon prägte dafür den Begriff der „begrenzten Rationalität“. Und mit dieser begrenzten Rationalität müssen wir umgehen.
Schauen Sie auf das Beispiel der sozialen Normen: Wir lassen uns häufig vom Verhalten anderer um uns herum beeinflussen und richten unser Verhalten danach aus. Das kann sehr adaptiv sein, um sich in neuen Kontexten schnell zu integrieren, es kann aber auch zu einem „Herdentrieb“ führen, der in die falsche Richtung geht.
Wenn wir diese Mechanismen kennen und verstehen, können wir sie nutzen, um Menschen das Entscheiden einfacher zu machen. Daneben beeinflussen unsere Überzeugungen und Einstellungen natürlich ebenso unser Verhalten. Diese zu verändern ist jedoch nicht das Ziel beim Nudging.
Stephan Becker-Sonnenschein:
Der Anstoß per se, ein kleiner Stups, ist im Prinzip eine wichtige und gute Sache. In der Kindererziehung finden unzählige Stupse statt. Wenn ich das aber bei mündigen Erwachsenen mache, wird es schwierig. Die Keksdose hoch oben auf dem Schrank, die heruntergeholt wurde, um richtiges Verhalten zu belohnen, findet in der Kindererziehung bis heute Anwendung.
Wenn wir das übertragen: Ob an einem Buffet in einer öffentlichen Kantine die Fleischgerichte separat aufgebaut werden müssen, um den Fleischkonsum der Erwachsenen zu reduzieren, halte ich für fragwürdig. Es separiert Menschen in „die“ und „wir“; meist subkutan, oft aber auch offen. Und ganz schnell sind wir beim Thema: „Wir“ sind die Guten, und „die“ die Schlechten. Dazu ein klares Nein. Wer mündige Bürger ernst nimmt, kann und muss sie entscheiden lassen; auch wenn die Entscheidung anders ausfällt, als man es sich erhofft.

Ganz konkret gefragt: Können Nudging-Maßnahmen Ihrer Meinung nach Menschen dazu bringen, zu gesünderen Lebensmitteln zu greifen oder sich sogar „nachhaltiger“ im Sinne der Umwelt zu ernähren?

Max Vetter:
Ja, das können sie, wie verschiedene Studien und Experimente aus der Sozialpsychologie und der Verhaltensökonomie belegen. Kleinere Teller am Buffet sorgen beispielsweise dafür, dass weniger Kalorien pro Mahlzeit aufgenommen werden und weniger Lebensmittel weggeworfen werden. Das liegt daran, dass wir die selbstgewählte Portionsgröße häufig nicht an unseren eigenen Hunger, sondern an die Größe der verfügbaren Teller anpassen.
Auch die Reihenfolge der Speisen am Buffet hat einen Einfluss darauf, was gegessen wird. Gesunde oder klimafreundliche Speisen am Anfang des Buffets werden häufiger gewählt als dieselben Speisen am Ende des Buffets. Wir verschaffen uns schließlich selten erst einen Gesamtüberblick am Buffet, sondern beginnen mit den zuerst erreichbaren Speisen. Dann ist der Teller irgendwann voll – ganz unabhängig davon, was weiter hinten folgt.
Und schließlich steigt mit der Anzahl der verfügbaren vegetarischen Gerichte (man nennt das die „Basisrate“) die Wahrscheinlichkeit, dass ein vegetarisches Gericht gewählt wird, selbst wenn es nach wie vor ein Fleischgericht zur Auswahl gibt.
In allen diesen Beispielen werden ungesunde oder klimaschädliche Lebensmittel weder verboten noch verteuert (was natürlich auch Möglichkeiten, allerdings keine Nudges wären) und stehen weiterhin zur Wahl. Die Wahrscheinlichkeit, mit der sie gewählt werden, wird allerdings reduziert.

Stephan Becker-Sonnenschein:
In Deutschland ist der Schutz vor gefährdenden Lebensmitteln zu gut 99 % vorhanden. Der Staat hat also mit Gesetzen und Verordnungen sichergestellt, dass der Schutz der Gesundheit gewährleistet ist. Er ist seiner Aufgabe nachgekommen, das Gemeinwesen über Gesetze und Verordnungen eindeutig zu regeln.
Greift nun der Staat zum Nudging, wird er zum Volkserzieher. Er wird zum Richter dessen, was gut oder schlecht ist, aber nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Er entzieht sich seiner Verantwortung, Dinge eindeutig zu regeln, oder eben nicht zu regeln. Er will erziehen, grenzt dadurch aber Menschen aus, die nicht „gut“ sind – die zu viel essen, die keinen Sport treiben, etc. Es würde also aus moralischen Überlegungen entschieden, nicht auf der Basis, was richtig oder falsch ist.
Noch schwieriger wird es, wenn man zum Thema Nachhaltigkeit „Stupse“ gibt. Dazu ist der Begriff viel zu unklar definiert. Der Übergang vom Nachhaltigkeits-Nudge zur „Fear, Uncertainty and Doubt“-Strategie ist ein sehr schmaler. Hier werden die Nudges mit Gefahren als Konsequenz verknüpft, die bei Verbrauchern zu Angst, Unsicherheit und Zweifel führen: Rotes Fleisch erhöht möglicherweise die Krebsgefahr, Glyphosat könnte vielleicht Krebs erregen – um nur zwei Beispiele zu nennen. Hier gilt es jeweils wissenschaftlich zu klären, wie hoch die Risiken sind. Besteht Gefahr, sind Regulierungen zu treffen, damit niemand Schaden nimmt. Ist das Risiko aber geklärt, ist es fast unverantwortlich, aus emotionalen oder ideologischen Gründen heraus weiter zu nudgen, also die Zweifel aufrechtzuerhalten, denn dadurch stellt man andere Menschen an den Pranger der Öffentlichkeit, wie beim Glyphosat geschehen.
Stupsen kann hier schnell zum Rempeln werden.

Kritiker des Ansatzes haben das Stichwort „Glücksdiktatur“ geprägt. Gibt es aus Ihrer Sicht Argumente, die gegen eine Einflussnahme sprechen? Was darf und kann zum Beispiel ein Staat tun?

Max Vetter:
Ich halte den Begriff „Glücksdiktatur“ für polemisch und unpassend. Das Streben nach Glück ist in Deutschland keine staatliche Aufgabe. Wenn Nudging im öffentlichen Bereich eingesetzt wird, dann geht es um demokratisch legitimierte Ziele wie Umweltschutz oder Gesundheitsförderung. Eine Diktatur zeichnet sich überdies dadurch aus, dass den Handelnden keine Handlungsfreiheit bleibt. Beim Nudging ist genau das Gegenteil der Fall, denn per Definition müssen verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung stehen.
Darüber, welche Ziele eine Regierung verfolgen soll, entscheiden in Deutschland demokratische Prozesse wie Wahlen oder internationale Verträge. Deutschland hat sich beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes im Paris-Abkommen zum 2-Grad-Ziel verpflichtet. Nun muss die Regierung wirksame Maßnahmen ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen. Nudging kann hier neben dem Ordnungsrecht oder finanziellen Maßnahmen (z. B. Anreize, Steuern) eine Methode sein, das Ziel zu erreichen. Natürlich muss der Staat dafür Einfluss nehmen und das tut er auch durch Gesetze oder Steuern. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass eine Methode auch zum erwünschten Ziel führt. Manche Gesetze sind schwer durchsetzbar und manche Steuern verfehlen ihre intendierte Lenkungswirkung. Dann muss der Staat nach anderen Methoden Ausschau halten, um die Ziele, die wir Bürger ihm aufgetragen haben, zu erreichen.
Nehmen wir schließlich ein Beispiel aus dem Bereich des Datenschutzes: Ein wirkungsvoller, prototypischer Nudge, der Verbraucherinnen und Verbraucher vor unerwünschten Werbemails schützt, ist die vorgeschriebene Standardeinstellung bei Newsletter-Bestellungen. Der Haken beim Newsletter darf nicht per Default – also automatisch – voreingestellt sein, sondern muss aktiv gesetzt werden. Das bewahrt uns alle vermutlich vor unzähligen Werbemails. Wo ist hier die „Glücksdiktatur“?
Insgesamt sollten wir meines Erachtens Nudging als Methode nicht deshalb ablehnen, weil wir die damit verfolgten Ziele ablehnen. Über die Ziele muss partizipativ diskutiert und demokratisch entschieden werden und die Beurteilung der Mittel muss unabhängig von den Zielen erfolgen.
Stephan Becker-Sonnenschein:
Das Grundgesetz, das uns allen persönliche Freiheit einräumt, um unser Leben frei gestalten zu dürfen, spricht gegen das Stupsen. Hier zählt die Verantwortung des Einzelnen. Dann ist es besser, ein Produkt zu verbieten, statt den Genuss zu vergällen und die Nutzer als unverantwortliche Selbst- oder Fremdgefährder zu diskriminieren. Der Staat sollte nicht nudgen, er ist nicht die oberste moralische Instanz. Er muss zum Schutz der Gemeinschaft abwägen, welche Gesetze notwendig sind und welche nicht. Und wo kein Gesetz vorhanden ist, zählt die Eigenverantwortung des mündigen Bürgers, sich eventuell einschränken zu müssen.

Wie schätzen Sie Nudging im Vergleich zu anderen Maßnahmen im Bereich Prävention, Bildung bzw. staatliche Interventionen ein?

Max Vetter:
Nudging sollte nicht gegen Bildung, Verbote/Gebote oder ökonomische Anreize (z. B. Steuern) ausgespielt, sondern als Ergänzung betrachtet werden. Wenn sich beispielsweise Verbote nicht überwachen lassen oder Bildung nicht den erhofften Erfolg bringt, können Nudges gute Alternativen sein. Gleiches gilt für Akteure, die mit sehr begrenzten finanziellen Mitteln Verhaltensänderungen bewirken wollen oder denen nicht das gesamte Instrumentarium an Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung steht. In die Wahl der Mittel sollten nach meinem Dafürhalten Aspekte wie Verhältnismäßigkeit (Ist z. B. ein Gesetz verhältnismäßig?), das Kosten-Nutzen-Verhältnis (Welche Intervention ist am effizientesten?) und Wirksamkeit (Welche Intervention ist am effektivsten?) einfließen. Das kann natürlich auch dazu führen, sich gegen einen Nudge zu entscheiden, weil Bildungsarbeit, Gesetze oder Steuern passender sind.
Der Einbezug sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gestaltung von Politikmaßnahmen steht in Deutschland noch am Anfang. Viele staatliche Maßnahmen sind stark durch eine juristische oder traditionell-ökonomische (neoklassische) Denkweise geprägt. Durch die Popularisierung des Begriffes Nudging werden nun vereinzelt auch psychologische Erkenntnisse einbezogen, was gut ist und die Maßnahmen BürgerInnen-näher macht.
Ein gutes Beispiel aus dem internationalen Vergleich: In den USA gibt es beispielsweise Pilotversuche, bei denen Highschool-Absolventinnen und Absolventen an finanzielle Fördermöglichkeiten für das College erinnert werden. Diese Erinnerungs-Nudges könnten gerade junge Menschen in entscheidenden Lebensphasen unterstützen. Wenn dadurch mehr Menschen aus einkommensschwachen Haushalten ein Studium ermöglicht wird, sollten wir diese simple Maßnahme nutzen, um etwas dagegen zu tun, dass Bildung bei uns noch immer so stark vom sozioökonomischen Status abhängt.

Stephan Becker-Sonnenschein:
Prävention, also Vorsorge treffen, ist die Verantwortung jedes Einzelnen für sich und sein Leben. Ausgenommen sind Personen, die nicht für sich selbst entscheiden können. Hier ist es Aufgabe der Gemeinschaft, für diese die Verantwortung mit zu übernehmen. Wie man sich selber Anreize setzt, seine Übungen, Diät, vernünftiges Verhalten regelmäßig einzuhalten, dazu gibt es viele Motivationsempfehlungen. Man kann seinen Lebensstil so gestalten, wie man es für richtig und vernünftig hält. In einer Demokratie wie unserer gibt es unendlich viele Facetten, seinen Lebensstil zu gestalten. Es ist auch recht und billig zu versuchen, andere Menschen für den eigenen Lebensstil zu begeistern, aber nicht, diese zu „schlechteren“ Menschen zu erklären.
Gibt es Maßnahmen, die im Ausland praktiziert werden und die wir übernehmen sollten? Es gibt viele Beispiele, von Zuckersteuern auf Getränke bis zu Werbeverboten für bestimmte Produkte. In einer globalisierten Welt ist es wichtig sich anzusehen, inwieweit derartige Verordnungen erfolgreich sind. Dann ist es wieder die Rolle des Staates, eine Gesetzgebung zu prüfen und dabei abzuwägen, wie die Einschränkung der persönlichen Freiheit im Verhältnis zu den gewünschten Zielen steht. Viele Ansätze in anderen Ländern sind nach einigen Jahren zurückgenommen worden oder haben nicht den Erfolg gezeitigt, den man sich gewünscht hat.